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Saturday, July 8, 2023

Tafeln: Zu viele Bedürftige zu wenig Lebensmittel - Deutschlandfunk Kultur

Seit 30 Jahren verteilen die Tafeln in Deutschland Lebensmittel an bedürftige Menschen und setzen so auch ein Zeichen gegen Verschwendung. Rund zwei Millionen von Armut Betroffene wurden 2022 von den rund 960 gemeinnützigen Vereinen, die sich im Dachverein Tafel Deutschland organisieren, unterstützt.

Doch beim jüngsten Bundestreffen der Tafeln herrschte wenig Optimismus: Corona, Inflation und der Ukrainekrieg, vor dem viele Ukrainer nach Deutschland flohen, hat die Zahl der Menschen, die vom Angebot der Tafeln regelmäßig Gebrauch machen, innerhalb von fünf Jahren um eine halbe Million steigen lassen. Das bringt die Helfer an die Belastungsgrenze. Zugleich beklagen die Tafeln, dass der Einzelhandel ihnen deutlich weniger Lebensmittelspenden als früher zur Verfügung stellt.

Die erste deutsche Tafel wurde von der Initiativgruppe Berliner Frauen e.V. 1993 in Berlin gegründet. Ehrenamtliche Vorsitzende ist bis heute die Sozialpädagogin Sabine Werth. Den Anstoß gab ein Vortrag der damaligen Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) zur Situation von Obdachlosen.

Innerhalb weniger Jahre wurden Tafeln in ganz Deutschland gegründet. Gedacht waren sie ursprünglich als „Ausdruck gelebter Solidarität“ gegenüber Wohnungslosen und in bitterster Armut Lebenden, sagt der Vorsitzende des Dachverbandes, Jochen Brühl. Nicht um dem Staat seine Verantwortung für Sozialleistungen abzunehmen, sondern als zusätzliches Angebot, wie Brühl betont.

Doch mit der umstrittenen Einführung von Hartz IV stieg die Zahl der Tafeln sprunghaft an: Der Kreis derjenigen, die ihre Lebensmitteleinkäufe kaum noch aus eigenen Mitteln finanzieren konnten, wurde deutlich größer.

Fast jeder Landkreis hat eine Tafel

Heute ist fast flächendeckend jeder Landkreis mit einer solchen Anlaufstelle ausgestattet, 962 spendenfinanzierte Tafeln gibt es insgesamt. Etwa 60.000 zumeist ehrenamtliche Helfer sind im Einsatz. Die Spenden kommen von Privatleuten und von Unternehmen, einige Einzelprojekte erhalten auch Zuschüsse aus staatlichen Förderprogrammen.

Die Tafel-Betreiber und ihre Helfer sammeln Lebensmittel- und Hygieneartikelspenden, die von regionalen Einzelhändlern – Supermärkte, Bäckereien – zur Verfügung gestellt werden. Hinzukommen Großspenden an den Dachverband, der diese dann an die einzelnen Vereine weiterleitet. Die gesammelten Waren werden entweder kostenlos oder zu einem symbolischen Preis - meist sind es minimale Cent-Beträge - an die Bedürftigen verteilt.

Die Tafeln agieren dabei autonom und können individuell entscheiden, wie sie die Lebensmittel abgeben. Jene, die dies gegen geringe Summen tun, bestreiten damit Infrastrukturkosten wie Raummiete oder Stromkosten. Einige arbeiten auch mit sozialen Einrichtungen wie der Caritas zusammen, deren Räumlichkeiten sie dann beispielsweise nutzen können.

Was ursprünglich dafür gedacht war, die Not von Obdachlosen zu lindern, erreicht seit Langem auch Senioren mit schmaler Rente, Alleinerziehende, arme und/oder kinderreiche Familien sowie Arbeitslose oder Studierende, die wegen der explodierenden Mieten und dem Anstieg der allgemeinen Lebenshaltungskosten sonst nicht über die Runden kämen.

Seit Februar 2022 reihen sich auch viele Geflüchtete aus der Ukraine, die noch keine Sozialleistungen bekommen, in die Gruppe der Bedürftigen ein. „Es wurde in der ersten Zeit immer wieder darauf verwiesen, dass sie doch zur Tafel gehen sollen, bis der Geldbezug geregelt ist“, sagt Dachverbandsvorsitzender Jochen Brühl. Doch dass der Sozialstaat Teile seiner Pflichten bei Vereinen wie den Tafeln ablädt, darf auf keinen Fall der Normalzustand werden, findet er: „Da sagen wir dann nein. Wir sind nicht Teil eures Systems. Macht ihr das selbst als Kommunen und Behörden.“

Der Soziologe Stefan Selke sieht vor diesem Hintergrund die Rolle der Tafeln sehr kritisch: Sie erweckten den falschen Eindruck, bürgerschaftliches Engagement werde das Thema Armut schon richten. „Tafeln deuten an, dass es hinter dieser Fassade der wohlanständigen, zivilgesellschaftlichen, bürgerschaftlichen Hilfe ein System gibt, in dem Armut gut aufgehoben ist. Und wenn man sich mit diesem ersten Blick zufriedengibt, hat das langfristig katastrophale Folgen - weil dann Handlungsbedarfe einfach aus der Politik verschwinden“, sagt Selke.

Dass es Handlungsbedarf gibt, zeigt die Statistik: Im Jahr 2022 waren laut Erstergebnissen des Mikrozensus knapp 21 Prozent der Bevölkerung in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ist nach der Definition der Europäischen Union dann gegeben, wenn bei dem jeweils befragten Haushalt eines oder mehrere der drei Kriterien "Armutsgefährdung", "erhebliche materielle Entbehrung" oder "Zugehörigkeit zu einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung" vorliegt.
Die sogenannte Armutsgefährdungsquote, die in der deutschen Diskussion über Armut eine wesentliche Rolle spielt und ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut ist, lag 2006 noch bei 14 Prozent und stieg bis 2021 auf 16,9 Prozent, 2022 sank sie leicht auf 16,7 Prozent. Der Schwellenwert für Armutsgefährdung lag 2022 für Alleinlebende in Deutschland bei 13.918 Euro im Jahr.

In der Regel genügt ein staatlicher Nachweis, um die Bedürftigkeit nachzuweisen. Das kann ein Bescheid vom Jobcenter sein - oder auch der Renten-, Wohngeld- oder BAföG-Bescheid.

Anschließend erhält man einen Tafel-Ausweis und lässt sich bei seiner ortsnahen Tafel registrieren. Mit dem Ausweis können Bedürftige dann zu vereinbarten Terminen die Lebensmittelausgabe ihrer Tafel nutzen.

Angesichts der angespannten Lage – Anstieg der Zahl der Bedürftigen bei gleichzeitigem Rückgang der Lebensmittelspenden – musste laut Tafel Deutschland-Vorsitzendem Brühl in rund einem Drittel der Vereine die Ausgabe von neuen Tafel-Ausweisen ausgesetzt werden.

Auch die Tafel Deutschland-Geschäftsführerin Sirkka Jendis sieht die Tafeln an der Kapazitätsgrenze. Während nach Angaben des Tafel-Landesvorsitzenden für Schleswig-Holstein und Hamburg, Frank Hildebrandt, einige Tafeln 2022 einen Zuwachs an Bedürftigen von bis zu 40 Prozent verzeichneten, gingen die Lebensmittelspenden aus dem Einzelhandel mancherorts um bis zu 50 Prozent zurück. Das sagte Hildebrandt in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Laut dem Bundeslandwirtschaftsministerium werden in Deutschland jährlich elf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle entsorgt. Auch noch essbare Lebensmittel landen im Müll. Hinzukommen weitere aussortierte Lebensmittel, die nicht der Produktnorm entsprechen, aber dennoch uneingeschränkt verzehrt werden könnten. Etwa 0,8 Millionen Tonnen der weggeworfenen Lebensmittel stammen aus dem Handel.

Was viele Verbraucherinnen und Verbraucher nicht wissen: Das sogenannte Mindesthaltbarkeitsdatum, das auf keiner Verpackung fehlen darf, ist nur ein Richtwert. Der Lebensmittelproduzent garantiert damit, dass die Ware bis zu diesem Zeitpunkt geruchlich, geschmacklich und optisch in einwandfreiem Zustand ist. In den meisten Fällen können die Lebensmittel aber deutlich über das Datum hinaus gegessen oder verarbeitet werden.

Mehrere Entwicklungen sind seit einigen Jahren zu beobachten. Sozial-Startups wie Sirplus oder Too Good to Go haben aus der Rettung von Lebensmitteln ein Geschäftsmodell entwickelt, das offenbar viele Anhänger findet. Sirplus vertreibt Lebensmittel mit abgelaufenem Verfallsdatum oder Obst und Gemüse, das nicht mehr perfekt aussieht, zu deutlich niedrigeren Preisen.
Too good to Go ist eine App, über die man Angebote für stark verbilligte Restwaren von örtlichen Bäckern, Supermärkten oder auch Restaurants abrufen, reservieren und abholen kann. Die Konstanzer Firma Kultimativ wiederum verarbeitet überschüssiges Brot zu Knödeln und Brotchips.

Niedrige Preise für Schnäppchenjäger

Und auch der Einzelhandel selbst hat entdeckt, dass man das nicht (mehr) perfekte Obst und Gemüse mit Schönheitsfehlern auch behalten oder zu Brotaufstrichen verarbeiten und gleich selbst unter Labeln wie „Die etwas Anderen“ (Kaufland), „Liebe ²“ (Edeka) oder „Rettertüte“ (Lidl) zu niedrigeren Preisen an Schnäppchenjäger verkaufen kann.

Verkaufen, wohlgemerkt, nicht spenden. Das ist das Problem. Die Berliner Tafeln hätten bereits mehrere Lidl-Filialen als Spender verloren, sagt Sabine Werth, die Berliner Tafel-Frau der ersten Stunde. Sie hat Verständnis für den Einzelhandel und begrüßt alle Maßnahmen und Geschäftsideen, die Lebensmittelverschwendung bekämpfen. „Das ist ein guter Ansatz", sagt sie. Doch zugleich nehme dieser den Tafeln die Ware weg.

Die Berliner Tafeln versorgen seit Beginn des Krieges in der Ukraine doppelt so viele Menschen wie noch im Jahr davor. Der Rückgang der Lebensmittel bedeute, dass für alle weniger da sei, betont Sabine Werth:

„Und das bedeutet, dass die Ehrenamtlichen, die ja, wie alle hier, ein durchaus emotionales Verhältnis zu den Kundinnen und Kunden haben, die Leute vertrösten und sagen mussten: ‚Tut mir leid, ich habe jetzt nicht mehr als den einen Apfel für Sie. Auch wenn Sie drei Kinder haben – mehr ist halt nicht drin.‘“ Das sei für beide Seiten frustrierend und eine enorme Belastung. Die ehrenamtlichen Helfer seien eben oftmals auch ein seelischer und sozialer Fixpunkt für die Menschen in Not.

Ähnliches berichtet auch Christian Pagel, Regionalvorstand Nordwest der Johanniter in Schleswig-Holstein. Pagels Verband betreibt mehrere Tafeln in dem Bundesland und würde gerne viel mehr Spendengelder für die Tafeln verwenden, etwa für die Räumlichkeiten. „Vielfach müssen wir aber Lebensmittel zukaufen. Doch das kann nicht der Sinn der Tafeln sein. Wir möchten Lebensmittel vor dem Wegwerfen retten.“


mkn, Frank Drescher, Matthias Bertsch

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