Die Rohstoffpreise steigen derzeit bei Produkten besonders heftig, auf die niemand verzichten kann: Nahrungsmittel. Im Mai machte der Index der UN-Organisation für Lebensmittel und Landwirtschaft (FAO) einen Sprung um 4,8 Prozent gegenüber April. Der Index gilt als aussagekräftiger Maßstab für die weltweite Preisentwicklung. Verglichen mit Mai 2020, bedeutet dieses Plus einen Anstieg um fast 40 Prozent.
„China hat weiterhin eingekauft, aber vor allem erweist sich die Dürre in Brasilien als ernsthafter als erwartet. Wir müssen jetzt beten, dass das Wetter in den USA sich günstig entwickelt“, sagte FAO-Chefökonom Abdolreza Abbassian kürzlich zu den Hauptursachen. Die Stärke des Anstiegs habe alle überrascht.
Die Entwicklung könnte sich auch in den deutschen Ladenregalen bemerkbar machen. Landwirtschaftliche Rohstoffe werden global gehandelt, die Preistendenzen sind überall ähnlich. Doch während die Preisexplosion bei Mais, Pflanzenölen, Getreide und anderen Agrarrohstoffen die Bewohner ärmerer Länder existenziell trifft, befinden sich die Konsumenten in Deutschland in einer vergleichsweise privilegierten Position – jedenfalls bisher.
Zum einen würde ein Preisanstieg die Lebenshaltung der meisten Deutschen nur mäßig verändern, liegt doch der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke angesichts des insgesamt hohen Einkommensniveaus bei nur 12,2 Prozent. In armen Ländern müssen die Menschen zum Teil 50 Prozent ihres Einkommens oder mehr fürs Essen aufwenden.
Zum anderen wirkt der starke Wettbewerb im deutschen Lebensmittelhandel seit Jahrzehnten immer wieder als Preisbremse auf der Verbraucherebene. Auch deshalb sind die Preise für Lebensmittel in den letzten 30 Jahren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes mit plus 50,8 Prozent hierzulande weniger stark gestiegen als der Durchschnitt.
Das freilich könnte sich bald ändern. Die deutschen Hersteller von Lebensmitteln jedenfalls beklagen sich zunehmend heftig über die Klemme, in die sie durch stark steigende Einkaufspreise geraten seien. Ihre eigenen Abgabepreise hätten sie nämlich 2020 nur um 1,2 Prozent anheben können, sagte Christoph Minhoff, Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE), am Freitag.
Bürokratiekosten wachsen permanent
„Die Zulieferer des Lebensmitteleinzelhandels kommen wegen steigender Kosten zunehmend unter Druck“, sagte er. Im vergangenen Jahr sank die Beschäftigung in der Branche erstmals seit zwölf Jahren - um fast 5000 auf 614.000 Jobs. Zum Druck auf die Branche mit unverändert 185,3 Milliarden Euro Umsatz trage auch eine wachsende Kostenbelastung in vielen anderen Bereichen bei. So schnellten die Tarife für die Luft- und Seefracht ebenfalls hoch, und baldige Entspannung sei nicht in Sicht.
Auch die allgemeinen Standortkosten kennen nach Minhoffs Darstellung nur eine Richtung: nach oben. So hätten die Strompreise für die Betriebe - ohnehin die höchsten in der EU - 2020 um weitere sechs Prozent zugelegt. „Und das ist erst der Anfang“, so Minhoff mit Blick auf politische Beschlüsse, die einen stetigen und planmäßigen Anstieg der CO2-Bepreisung vorsehen.
Dazu kämen permanent wachsende Bürokratiekosten. Als Negativbeispiel aus jüngster Zeit rage das Lieferkettengesetz heraus. „Es ist nicht ganz so schlimm ausgefallen wie befürchtet, aber es wird zweifellos ein Bürokratiemonster“, beklagte der Branchen-Lobbyist.
Zudem sei völlig unverständlich, dass Deutschland isoliert ein solches Gesetz erlassen habe, während es durch eine in Arbeit befindliche EU-Regelung absehbar schon bald überholt werde. „Wir erleben in der EU in den letzten Jahren einen schleichenden Verfall der Harmonisierung“, beklagte Minhoff. Das sei beispielsweise auch bei der Lebensmittelampel Nutri Score zu beobachten gewesen und deute sich jetzt bei einer analogen Öko-Ampel, dem sogenannten Öko Score, wieder an.
Hier war der Discounter Lidl zuletzt mit der Ankündigung vorgeprescht, rund 140 Tee-, Kaffee- und Molkereiartikel zu kennzeichnen. Doch bei der Klimabilanzierung von Produkten bestehe noch erheblicher Nachholbedarf, es fehle ein einheitliches Modell für die EU, sagte BVE-Geschäftsführerin Stefanie Sabet:
„In Frankreich schneidet ein Produkt im Eco Score gut ab, wenn es aus Frankreich kommt, bei Lidl, wenn es aus Deutschland kommt“, meinte sie. Grund seien schlicht kürzere Transportwege, doch letztlich drohe der Freihandel auf diese Weise ausgehebelt zu werden.
Besonders Speiseöl wird teurer
Die tiefsten Sorgenfalten treiben den Managern der Ernährungsindustrie aber gegenwärtig die Rohstoffpreise auf die Stirn. Die künftige Entwicklung sei schwer einzuschätzen, meinte Minhoff. Die Nachfrage werde vorerst eher noch steigen, da die Konsumenten in der abflauenden Corona-Krise einen hohen Nachholbedarf an den guten Dingen des Lebens hätten.
Auf der anderen Seite würden viele Lieferketten mit einer Entspannung der Pandemie hoffentlich bald wieder reibungsloser laufen – doch es blieben große Unsicherheiten. Auch weltweit steigt der Verbrauch nach Darstellung der FAO derzeit kräftig. Das sei ein Hauptgrund für den steilen Preisanstieg bei Pflanzenölen, Zucker und Getreide.
Normalerweise würde die hohe Nachfrage zu einer entsprechenden Steigerung des Angebots führen, doch selbst bestellte Produkte seien in zahlreichen Marktsegmenten nicht überall zu bekommen, erklärte FAO-Ökonom Abbassian. Der Index der Agrarrohstoffpreise erreichte mit 127,1 Punkten im Mai denn auch den höchsten Stand seit mehr als einem Jahrzehnt.
Am steilsten stieg wie schon in den Vormonaten das Preisbarometer für Pflanzenöle an: um 7,8 Prozent allein im Mai gegenüber April. Einer der Gründe hierfür sei die wachsende Nachfrage nach Biodiesel, heißt es in einem FAO-Bericht. Indes war die Preissteigerung bei Zucker mit plus 6,8 Prozent binnen einem Monat kaum weniger stark. Die schlechte Ernte in Brasilien und hohe Importe Indiens – das die Inlandspreise drücken wolle – spielten hier die Hauptrolle.
Für andere Produktgruppen dekliniert die Welternährungsorganisation unterschiedliche Ursachen ebenfalls durch: Ergebnis sind überall steigende Preise auf Monatsbasis. Fleisch: plus 2,2 Prozent, Cerealien plus 6,0 Prozent, Milch plus 1,8 Prozent. Aufs Jahr gerechnet, ergibt selbst dieser moderat erscheinende Satz immer noch eine stattliche Teuerung von 28 Prozent beim „weißen Gold“.
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Lebensmittel: Das steckt hinter der Preisexplosion bei Rohstoffen - WELT
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