Die Erzeugerpreise in Deutschland sinken derzeit im Rekordtempo. Für den September meldet das Statistische Bundesamt ein Minus von fast 15 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat – nie gab es einen stärkeren Rückgang seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1949. Und das nur einen Monat nach dem bisherigen Rekord von 12,6 Prozent, den die Statistiker im August gemessen haben. Für die Verbraucher sind das eigentlich gute Nachrichten.
Schließlich geht es um die Preise, die Hersteller für ihre Produkte verlangen, bevor sie weiterverarbeitet werden oder in den Handel kommen. Damit sind die Erzeugerpreise so etwas wie die Vorboten der Verbraucherpreise, die von den Konsumenten bezahlt werden müssen, etwa beim Einkaufen im Supermarkt.
„Deutschland macht damit klare Fortschritte in der Inflationsbekämpfung“, meint Sebastian Dullien, der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Ihm zufolge haben vor allem gesunkene Energiepreise und ein Basiseffekt zu dem starken Rückgang geführt. Gleichwohl warnt Dullien vor überzogenen Erwartungen – weil die Verbraucherpreise seiner Aussage nach meist träger reagieren als die Erzeugerpreise.
Das lässt sich wunderbar am Milchmarkt zeigen. Zwar haben die Verbraucherpreise für Milchprodukte ihren Höhepunkt überschritten. „Die Preisrückgänge sind hier aber merklich schwächer ausgeprägt als bei den Großhandelspreisen oder gar der Preisentwicklung am Weltmarkt“, melden die Beobachter der ZMB Zentrale Milchmarktberichterstattung.
„Einzig die Butterpreise im Lebensmitteleinzelhandel sind temporär wieder etwa auf das Niveau von Herbst 2021 zurückgegangen. Für Trinkmilch, Sahne, Käse und Quark müssen die Konsumenten im Herbst 2023 aber deutlich mehr hinlegen als vor Mitte 2022“, sagt Geschäftsführerin Monika Wohlfahrt.
„Kein Potenzial für Preisnachlässe“
Und die Branche sieht auch absehbar keinen Spielraum für eine Verbesserung. „Ich sehe kein Potenzial für Preisnachlässe“, sagt Peter Stahl, der Präsident des Milchindustrie-Verbandes (MIV). Zwar liege der Auszahlungspreis der Molkereien merklich niedriger als noch im Vorjahr. Im Bundesschnitt rechnet der MIV für 2023 mit 45 Cent je Kilogramm Rohmilch, das sind rund 15 Prozent weniger als noch im Rekordjahr 2022.
Das Niveau sei damit aber weiterhin hoch. „Für die deutschen Milcherzeuger wäre dies der zweithöchste Milchpreis, der in den letzten Jahrzehnten jemals gezahlt worden ist“, beschreibt Stahl.
Noch größer sei der Kostendruck aber in anderen Bereichen, sagt der Manager, der im Hauptberuf Vorstandsvorsitzender der Molkerei Hochwald ist. Zum einen nennt Stahl „die weiterhin sehr hohen Energie- und Stromkosten“, zum anderen teure Tarifabschlüsse. Und nun komme auch noch die Erhöhung der Lkw-Maut dazu.
Am Freitag hat der Bundestag einer Verschärfung der Mautregelungen zugestimmt. Ab Dezember wird die Abgabe für den Straßentransport damit um eine CO2-Komponente erweitert, klassische Diesel-Lkw müssen dadurch mehr bezahlen. Zudem wird die Mautpflicht auch auf Fahrzeuge mit einem zulässigen Gesamtgewicht von 3,5 bis 7,5 Tonnen ausgeweitet. Die entsprechenden Mehrkosten müssten die Molkereien weiterreichen, kündigt Stahl an. Denn durch Optimierungen seien sie nicht mehr zu erzielen.
Er sieht nun die Politik in der Pflicht, für bessere Rahmenbedingungen zu sorgen. Denn die zunehmend schlechten Standortfaktoren würden die Unternehmen in Deutschland vor große Herausforderungen stellen und ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber ihren europäischen Nachbarn schmälern. „Es droht eine Abwanderung der Industrie, auch bei Molkereien“, warnt Stahl.
Strukturwandel droht dem Molkerei-Verband zufolge gleichzeitig auch auf der Erzeugerseite. „Politik und Lebensmitteleinzelhandel werden durch zusätzliche Anforderungen an Tierwohl und Umweltgesetzgebung die Entwicklung der Milchproduktion beeinflussen und in einigen Regionen für einen verstärkten Strukturwandel sorgen“, prognostiziert der MIV.
Tierwohl sei richtig und wichtig. Ziel müsse aber sein, erstens eine praxisorientierte Umsetzung zu ermöglichen und zweitens eine verlässliche Perspektive zu bieten. „Investitionen in Stallbau und Tierhaltung erfolgen auf Jahrzehnte und nicht auf wenige Jahre“, sagt Verbandschef Stahl.
„Dadurch werden wir weniger Milch haben in Deutschland“
Aktuell gibt es noch rund 51.000 Milchbauern in Deutschland. Viele finden aber keinen Nachfolger mehr, heißt es von den Molkereien. Andere würden keine Genehmigungen zum Umbau ihrer Ställe bekommen. „Dadurch werden wir perspektivisch weniger Milch haben in Deutschland.“
Folge der hohen Preise für Milchprodukte hierzulande war und ist ein merklicher Konsumverzicht in nahezu allen Branchenbereichen, wie Zahlen von Marktforscher NielsenIQ zeigen. Der Handel hat in den vergangenen Monaten versucht, mit Preissenkungen gegenzusteuern und fordert auch in aktuellen Verhandlungen Nachlässe mit Verweis auf niedrigere Rohstoffkosten.
Die Molkereien verweisen im Gegenzug nicht nur auf die Kosten in anderen Bereichen, sondern auch auf steigende Spotmarktpreise und höhere Weltmarktnotierungen für zum Beispiel Milchpulver, Butter und Käse und damit auf eine Trendwende bei den Rohmilchpreisen. Dafür spreche auch die seit Monaten rückläufige Milchanlieferung, die sogar zu einer Unterversorgung im zweiten Halbjahr führen könne.
Neben der Milchindustrie gibt es noch weitere Branchen aus dem Nahrungsmittelsegment, bei denen Preissenkungen in den kommenden Monaten längst nicht ausgemacht sind, trotz der sinkenden Herstellungskosten. Denn einige Nahrungsmittel haben sich verteuert, wie die September-Erzeugerpreise des Statistischen Bundesamtes zeigen. Zucker zum Beispiel ist fast 85 Prozent teurer geworden, verarbeitete Kartoffeln 28,5 Prozent, und Obst- und Gemüseerzeugnisse 17,2 Prozent.
Lebensmittel: Das Beispiel Milch zeigt, warum Nahrungsmittel teuer bleiben - WELT
Read More
No comments:
Post a Comment