Die deutschen Verbraucher schränken sich angesichts stark gestiegener Preise beim Kauf von Lebensmitteln so sehr ein wie seit mindestens 29 Jahren nicht mehr. Inflationsbereinigt (real) fiel der Einzelhandelsumsatz mit Lebensmitteln im März um 10,3 Prozent niedriger aus als ein Jahr zuvor, wie das Statistische Bundesamt am Dienstag mitteilte. „Dabei handelt es sich um den stärksten Umsatzrückgang zum Vorjahresmonat seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 1994“, hieß es dazu. Eine Ursache dafür dürften teure Nahrungsmittel sein, die im März 22,3 Prozent mehr kosteten als ein Jahr zuvor. Der Preisauftrieb war damit dreimal so hoch wie die Inflationsrate insgesamt mit 7,4 Prozent.
Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) hält diese Entwicklung für bedenklich. „Hier ist davon auszugehen, dass besonders ärmere Familien, die ohnehin oft qualitativ schlechtere Nahrungsmittel kaufen, nun noch einmal weiter sparen“, sagte der wissenschaftliche IMK-Direktor Sebastian Dullien. Nach Berechnungen seines Instituts sind seit Beginn des aktuellen Inflationsschubs Anfang 2022 regelmäßig Familien mit geringen Einkommen stärker von der Teuerung betroffen als Besserverdienende.
Den deutschen Einzelhändlern setzt die Konsumzurückhaltung ihrer inflationsgeplagten Kunden immer mehr zu, die drei Jahre in Folge mit weniger Kaufkraft klarkommen mussten. Ihr gesamter Umsatz fiel im März um 1,3 Prozent geringer aus als im Vormonat, wie das Statistische Bundesamt ermittelte. Inflationsbereinigt (real) sank er sogar um 2,4 Prozent und damit so stark wie seit fünf Monaten nicht mehr. Das kommt überraschend: Von der Nachrichtenagentur Reuters befragte Ökonomen hatten hier mit einem Wachstum von 0,4 Prozent gerechnet. „Der Umsatz befindet sich ganz klar in einem Abwärtstrend“, kommentierte der Chefvolkswirt der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank, Alexander Krüger, die Entwicklung. „Wegen der hohen Inflation wird es der Einzelhandel weiter schwer haben.“ Im Vergleich zum Vorjahresmonat verzeichnete dieser sogar ein reales Umsatzminus von 8,6 Prozent.
Ladensterben befürchtet
In den kommenden Monaten sollten die Kaufkraftverluste dank stärker steigender Löhne sowie steuer- und abgabenfreier Inflationsausgleichprämien aber nachlassen, erwartet das IMK. „Dann dürfte sich auch der private Konsum wieder allmählich erholen“, sagte Dullien mit Blick auf den Tarifabschluss etwa im öffentlichen Dienst von Bund und Ländern. Das Konsumniveau vom Vor-Corona-Jahr 2019 dürfte aber frühestens 2025 wieder erreicht werden. „Der Energie- und Nahrungsmittelpreisschock bedeutet damit ein halbes verlorenes Jahrzehnt für die deutschen Konsumentinnen und Konsumenten“, sagte Dullien.
Der Handelsverband Deutschland (HDE) hofft ebenfalls auf eine Besserung und verweist auf sein Konsumbarometer, das auf einer Umfrage unter 1600 Personen fußt. Im Mai liege es sowohl über dem Vormonats- als auch über dem Vorjahresmonatswert. „Diese Entwicklung erhöht die Chance auf eine moderate Erholung der Konjunktur in den kommenden Monaten“, so der HDE. „Aufgrund der verhaltenen Konsumlaune wird der private Konsum dabei allerdings voraussichtlich zunächst kein Wachstumstreiber sein.“ Bereits im zurückliegenden ersten Quartal waren die Konsumausgaben gesunken, weshalb die deutsche Wirtschaft insgesamt nur stagnierte. Der HDE befürchtet angesichts der Konsumzurückhaltung ein Ladensterben, zumal auch die Kosten für viele Geschäfte gestiegen seien. In diesem Jahr dürften etwa 9000 Geschäfte aufgeben, prognostiziert der Verband.
Der reale Umsatz im Einzelhandel mit Nicht-Lebensmitteln sank im März um 7,2 Prozent zum Vorjahresmonat, wie das Statistikamt weiter mitteilte. Der lange Zeit boomende Internet- und Versandhandel verzeichnete hier sogar einen Rückgang von 8,4 Prozent.
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Lebensmittel-Preise: Deutsche schränken sich ein – so wie seit 1994 nicht mehr - WELT
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