Im Supermarkt sind viele Waren und Produkte deutlich teurer als vor einem Jahr. Der Grund? Der Krieg in der Ukraine treibe die Kosten nach oben, sagen die Hersteller. Doch Paul Donovan widerspricht: Der UBS-Banker spricht von einem Märchen, um Gewinne zu maximieren.
Ende März entscheidet sich Lidl in Schweden zu einem radikalen Schritt: Der deutsche Discounter senkt die Preise für mehr als 100 Produkte - im Schnitt um 11 Prozent. "Diese Maßnahme wird Geld kosten, aber wir sind bereit, diesen Preis zu bezahlen, wenn wir schwedischen Haushalten in diesen schwierigen Zeiten helfen können", erklärt der Chef von Lidl-Schweden, Jakob Josefsson, in einer Pressemitteilung.
Wenige Tage später zieht die Konkurrenz nach: Andere schwedische Supermarktketten senken ihre Preise um 12 Prozent oder gleich für 300 Produkte. Es ist die erste gute Nachricht für Schwedinnen und Schweden seit Monaten. Denn in ihren Supermärkten sind die Preise bis dahin so stark gestiegen wie seit den 1950er Jahren nicht mehr: Im Februar mussten sie für Lebensmittel 21 Prozent mehr zahlen als ein Jahr zuvor.
Für Paul Donovan gehören die kräftigen Preissenkungen zu einem längeren Inflationsmärchen, das im vergangenen Sommer begonnen hat: Der britische Ökonom von der Schweizer Großbank UBS sagt, dass speziell die Preise in Supermärkten und in der Gastronomie seit einigen Monaten nicht mehr steigen, weil Arbeitskräfte fehlen oder es Probleme mit Lieferketten und hohen Energiekosten gibt. Stattdessen nutzen Fast-Food-Restaurants, Lebensmittelhersteller und Einzelhandelsketten ihre leichtgläubige Kundschaft aus - ein Phänomen, das als "Greedflation" bekannt ist, also "Gierflation" oder Profitgier.
Landwirtschaft kein Kostentreiber
UBS-Banker Donovan nennt die Entwicklung etwas weniger aufgeregt lieber Profit-getriebene Inflation. Das erste Mal ist ihm das Phänomen 2010 in seiner britischen Heimat aufgefallen. "Supermärkte haben ihre Preise erhöht und wie immer gesagt: Das ist nicht unsere Schuld, die Kosten in der Landwirtschaft sind gestiegen!", erzählt Donovan im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Der Ökonom hat damals aber zur selben Zeit ein Buch darüber geschrieben, wie die Umwelt Lebensmittelpreise beeinflusst. "Unsere Recherche war eindeutig: Der Preis von Lebensmitteln im Supermarkt hat sehr wenig mit dem zu tun, was Landwirte verlangen und erhalten. Die größten Kostenpunkte im Einzelhandel sind Arbeitskräfte, Verkaufsflächen, Werbung und Vertrieb. Die Ausgaben dafür sind damals nicht gestiegen. Mit unserer Analyse konnten wir beweisen, dass höhere Preise im Supermarkt nicht mit steigenden Kosten in der Landwirtschaft gerechtfertigt werden können."
Alles wird teurer
Auch derzeit wird der Supermarktbesuch in vielen europäischen Ländern oder den USA von Monat zu Monat teurer. Nicht nur Zahnpasta, Waschmittel und Windeln kosten deutlich mehr als vor einem Jahr. Auch für Brot, Eier, Zucker und andere Waren des täglichen Bedarfs müssen Kunden in Deutschland fast 25 Prozent mehr bezahlen.
Als häufigster Grund für die Preiserhöhungen wird noch immer der russische Angriff auf die Ukraine genannt. Direkt im Anschluss an die Corona-Pandemie wurden die Lieferketten damit ein zweites Mal durchgerüttelt. Sanktionen haben die Preise für Öl, Gas und andere Kraftstoffe explodieren lassen. Getreidetransporte wurden durch Diebstähle und Blockaden verhindert.
Doch das ist längst vorbei. Die Lieferketten haben sich entspannt. Die Löhne sind seit der Pandemie so gut wie gar nicht gestiegen. Strom kostet in Deutschland weniger als vor dem Krieg. Auch Weizen und Mais sind wieder so günstig, dass polnische Landwirte gegen günstige Importe aus der Ukraine auf die Barrikaden gehen.
"Das wird viele Verbraucher überraschen"
"Das wird viele europäische Verbraucher überraschen", sagt Donovan. Denn denen werde ja erzählt, der Krieg sei schuld an "skandalös teuren" Lebensmitteln. "Aber in entwickelten Ländern haben die Preise im Supermarkt nur sehr wenig mit den Preisen in der Landwirtschaft zu tun."
Stattdessen haben viele Unternehmen aus der Lebensmittelindustrie offensichtlich nicht nur ihre steigenden Kosten an die Kundschaft weitergegeben, sondern noch etwas draufgepackt. Denn nicht nur in den USA, auch in Europa haben Unternehmen wie Nestlé trotz Corona und Krieg Rekordgewinne und steigende Margen gemeldet.
Doch Verbraucherinnen und Verbraucher scheinen das Märchen der "fairen" Preiserhöhung nicht mehr zu glauben: Nicht nur in Schweden, auch in Norwegen haben sie im März mit Protesten auf die x-te Preiserhöhung reagiert. Innerhalb von 48 Stunden haben die Supermärkte reagiert: Die Preise wurden gesenkt - plötzlich und unerwartet stark. Genauso in Großbritannien, wo die Waitrose-Kette vor wenigen Wochen die Preise für 300 Alltagsprodukte um etwa 14 Prozent gesenkt hat.
Auch Edeka wütet
Nicht nur Lidl in Schweden sagt, dass die Einzelhändler durch diese Entscheidung viel Geld verlieren. Waitrose spricht von einem Verlust von 100 Millionen Pfund, umgerechnet gut 110 Millionen Euro. Denn die Supermärkte wollen mit dem Wucher nichts zu tun haben. Sie machen dafür das "Geschäftsgebaren einiger internationaler Lebensmittelhersteller" verantwortlich, wie der deutsche Edeka-Verbund auf Nachfrage von "Wieder was gelernt" erklärt.
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Um die "Renditeerwartungen von Investoren" zu erfüllen, versuchen die Hersteller demnach, "auf der Inflationswelle mitzureiten, und konfrontieren uns seit Monaten mit ungerechtfertigten und überzogenen Preisforderungen", sagt Edeka. "Um diese für uns nicht nachvollziehbaren Forderungen zwangsweise durchzusetzen, verhängen die Industriekonzerne immer häufiger einseitige Lieferstopps" - mutmaßlich, um für leere Regale zu sorgen, über die sich die wütende Kundschaft anschließend beschweren kann.
Gezielter Protest
Und dann? Wird der nächste Einkauf noch teurer - und noch teurer und noch teurer. Bis Verbraucher irgendwann so wenig Geld in der Tasche haben, dass sie nur noch das absolut Nötigste kaufen. Die Nachfrage sinkt und dadurch irgendwann wieder auch die Preise. Aber das dauert seine Zeit. Und in dieser Zeit verzichten die Menschen nicht nur auf teure Schokolade, Wein und Delikatessen, sondern auch auf Restaurantbesuche, Shopping-Touren und den neuen Computer.
Umsätze und Einnahmen sinken in mehreren Branchen gleichzeitig - und plötzlich sind Arbeitsplätze in Gefahr, sagt UBS-Banker Donovan. "Es wird sehr viel Schaden angerichtet, den man in einer Volkswirtschaft eigentlich nicht anrichten will."
Der Ökonom empfiehlt deshalb einen gezielten Protest von Supermärkten und Kundschaft. Wucher muss öffentlich angeprangert werden - dann werden die betroffenen Produkte zügig günstiger, denn historisch gesehen dauert Profit-getrieben Inflation nur 12 bis 18 Monate an. Denn auch die Konzerne wissen: Kurzfristige Zusatzgewinne sind schön. Aber sind sie es wert, dass sich treue Kunden abwenden oder das mühevoll erarbeitete Fünf-Sterne-Rating zerstört wird?
Doch allmählich ist eine Veränderung erkennbar. Die Verbraucher werden wählerischer: In Großbritannien hat der Einzelhandel für März sinkende Absatzzahlen gemeldet; aus den USA meldet Windel- und Zahnpasta-Gigant Procter & Gamble bereits das zweite Quartal nacheinander weniger verkaufte Produkte.
Auch, weil sich inzwischen Politiker wie der französische Finanzminister Bruno Le Maire einschalten. Er hat die großen Lebensmittelhersteller vergangene Woche im Fernsehen daran erinnert, dass die Weizenpreise und die Lieferkosten aktuell sinken - und betont, dass es "schön wäre, wenn man das zeitnah auch im Einkaufswagen merkt".
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.
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Wucher im Supermarkt: Das Märchen, dass Lebensmittel teuer sein müssen - n-tv NACHRICHTEN
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