Die süße oder saure Verführung zu ungesunden Kalorienbomben lauert vielerorts: Suggeriert durch die Werbung in Fernsehen, Internet oder auf Plakaten und greifbar am Schulkiosk, in den Supermärkten oder nach dem Schwimmunterricht zur Belohnung fürs gute Mitmachen. Welches Kind wird da nicht schwach?
Kinder und Jugendliche essen etwa doppelt so viele Süßwaren, aber nur halb so viel Obst und Gemüse wie empfohlen. Laut Robert-Koch-Institut ernähren sie sich außerdem zu viel von Fleisch und Wurst.
Gleichzeitig beginnt heute schon das eine oder andere Kind seine „Sitzkarriere“ in der Grundschulzeit, spätestens auf der weiterführenden Schule samt anschließenden Hausaufgaben und Lernphasen oder Computerspielen in der Freizeit – auch wieder am Schreibtisch.
Das Problem: Zu viel Essen und zu wenig Bewegung lässt auch bei Kindern und Jugendlichen die Fettpolster wachsen. Übergewicht schleicht sich ein.
Verschiedene Untersuchungen deuten darauf hin, dass auch im Lockdown während der Hochzeit der Corona-Pandemie Kinder und Jugendliche dicker wurden. Dazu beigetragen haben könnten neben einer ungesunden Ernährung langes Sitzen vor dem Computer beim Distanzunterricht, fehlender Sportunterricht, geschlossene Schwimm- und Turnhallen und gestiegene Mediennutzung statt Treffen mit Freunden.
Noch fehlen aktuelle bundesweite Zahlen. Zuletzt hatte das Robert Koch-Institut das Körpergewicht von Kindern und Jugendlichen bundesweit zwischen 2014 und 2017 messen lassen: Rund 15 Prozent hatten Übergewicht, etwa sechs Prozent aller Kinder waren adipös. In den 1980er- und 1990er-Jahren waren nur 10 Prozent der Kinder und Jugendlichen übergewichtig und drei Prozent adipös[1].
Adipositas begünstigt andere Krankheiten
Die Frage ist, ob und wie man diesen Trend rückgängig machen kann. Das wäre für den Einzelnen wichtig, weil viele adipöse Kinder auch zu adipösen Erwachsenen werden. Die Adipositas selbst erhöht das Risiko für andere Erkrankungen und Gesundheitsprobleme wie Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall, Fettleber, verschiedene Krebsformen und Schlafapnoe und kann ein Grund für ein verkürztes Leben sein[2].
Es wäre aber auch gesamtgesellschaftlich bedeutsam, weil die Behandlung von Adipositas samt Folgeerkrankungen, Arbeitsausfall und Frühverrentung jährlich hohe volkswirtschaftliche Kosten verursacht. Hamburger Forscher schätzten diese 2015 auf etwa 63 Milliarden Euro pro Jahr.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht sich für ein Zusammenspiel verschiedener Maßnahmen aus und empfiehlt Sofortmaßnahmen. Dazu gehört etwa eine gesundheitsorientierte Besteuerung von Lebensmitteln, zum Beispiel durch eine Zuckersteuer auf Erfrischungsgetränke oder Subventionen für Gemüse und Obst. Weiterhin hält die WHO es für nötig, Werbung, die sich an Kinder richtet, zu beschränken, gesunde Ernährung und Bewegung an Schulen zu fördern und den Zugang zur Adipositas-Therapie zu verbessern.
Wann handelt die Bundesregierung?
Die Bundesregierung hatte im aktuellen Koalitionsvertrag[3] unter anderem angekündigt: „An Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt darf es in Zukunft bei Sendungen und Formaten für unter 14-Jährige nicht mehr geben.” Zeitnah wird ein Gesetzentwurf dazu erwartet.
Ein Bündnis aus 40 Organisationen – darunter medizinische Fachgesellschaften, Krankenkassen, Gesundheitsorganisationen und Verbraucherschützer – appellierte daher Anfang November an die Parteispitzen der Bundesregierung für eine umfassende Werbeschranke. Teilverbote reichten nicht aus. Die Werbung könnte dann auf andere Kanäle verschoben werden.
Konkret schlägt das Bündnis vor, Werbung für Ungesundes täglich von 6 bis 23 Uhr im Fernsehen, Radio und auf Streamingdiensten zu verbieten und Influencer:innen nur Werbung für gesunde Lebensmittel zu erlauben. Zudem gehöre Außenwerbung für Ungesundes hundert Meter um Schulen, Kindertagesstätten und Spielplätze verboten. Die Lebensmittel sollten anhand der Nährwertempfehlungen der WHO Europa bewertet werden.
Der Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie hält nichts von einer Werbeschranke: Ohne Werbung lebe es sich nicht per se gesünder. Wichtig sei es, Bewegung, Ernährungs- und Medienkompetenz zu fördern.
Für ein gesünderes Verständnis von Ernährung
Nach Ansicht des Bündnisses würde die geforderte Werbebeschranke Familien darin unterstützen, ihren Kindern eine gesunde Ernährungsweise beizubringen. Das Bündnis beruft sich dabei auf eine Analyse, nach der Werbung die Vorlieben und das Essverhalten von Kindern und Jugendlichen beeinflusse. Durchschnittlich sieht bisher jeder 3- bis 13-Jährige täglich 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel. Allein die Süßwarenindustrie hatte 2021 erstmals mehr als eine Milliarde Euro für Werbung ausgegeben.
Für Oliver Huizinga von der am Appell beteiligten Deutschen Adipositas-Gesellschaft ist klar, dass eine umfassende Werbeschranke eine von mehreren zentralen Maßnahmen ist, die Adipositas zurückdrängen könnten.
Weltweit haben bereits 20 Länder an Kinder gerichtete Werbung mit verbindlichen Regeln eingeschränkt[4]. Eine Untersuchung mit 79 beteiligten Staaten, die zwischen 2002 und 2016 durchgeführt wurde, zeigt, dass der Pro-Kopf-Verkauf von ungesunden Lebensmitteln in den Ländern mit einer verbindlichen Werbeschranke tatsächlich um knapp neun Prozent gesunken, dagegen in solchen ohne Beschränkung um knapp 14 Prozent gestiegen ist. Freiwillige Werbeschranken ließen den Verbrauch um weniger als zwei Prozent steigen[5]. Ob durch diese Maßnahmen auch die Zahl adipöser Kinder und Jugendlicher sinkt, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.
Hören Sie hier unsere Podcast-Episode zum Thema:
Adipöse Kinder: Hilft ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel? - Apotheken Umschau
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