Brüssel Die Schädlichkeit von zu viel Zucker, Fett und Salz in Lebensmitteln ist unbestritten. Doch wie durch ein einfaches Kennzeichnungssystem Verbraucher besser über die Substanzen aufgeklärt werden können, wird in der EU kontrovers und heftig diskutiert. Wirtschaftswissenschaftler plädieren im Streit über ein einheitliches Lebensmittellogo in allen 27 Mitgliedstaaten nun für einen Kompromiss.
Eine Studie des Centrums für Europäische Politik in Freiburg, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegt, schlägt der EU-Kommission das britische Ampelsystem vor. Dieses bietet eine einfache Orientierung anhand der Ampelfarben und liefert zusätzlich Informationen über die Nährwerte von Lebensmitteln.
Die Verfasser der Studie, der Italiener Andrea De Petris und sein französischer Kollege Victor Warhem, schreiben: „Eine gute Lösung wäre zum einen das britische Ampelsystem, das Elemente von Nutri-Score und Nutrinform miteinander vereint.“ Das britische „Multiple Traffic Lights-System“ verbindet nach Ansicht der Experten das Beste aus dem französischen Nutri-Score- und dem italienischen Kennzeichnungssystem Nutrinform. Es liefert Informationen über die Menge an Energie, Fett, Zucker und Salz und setzt die Ampelfarben zur Orientierung für die Verbraucher ein.
Bislang konkurriert der französische Nutri-Score, ein Ampelsystem von „A“ für gesundes bis „E“ für das am wenigsten gesunde Essen, mit dem italienischen Nutrinform-System, das Prozentangaben für Salz, Zucker und Fett angibt. Vor allem die Italiener fürchten, eine Übernahme des Nutri-Scores führe zu einem Imageschaden bei Anhängern einer bislang als gesund geltenden Mittelmeerdiät, weil etwa Produkte mit Olivenöl plötzlich ein negatives Label erhalten könnten. Italien hatte erst im vergangenen Jahr mit Nutrinform sein eigenes Lebensmittelsiegel eingeführt.
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Vorschlag der EU-Kommission kommt bis 2022
Die EU-Kommission will bis 2022 einen Vorschlag für die obligatorische Kennzeichnung von industriell produzierten Lebensmitteln auf der Vorderseite der Verpackung vorstellen. Das Thema Lebensmittellogo liegt in der Kompetenz der zyprischen Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides. Bereits vor einem knappen Jahr hat die Kommission ihre Strategie für ein „gesundes und umweltfreundliches Lebensmittelsystem“ als Teil des Green Deals verabschiedet.
Eines der Hauptziele dieser Strategie ist es, die negativen Auswirkungen des derzeitigen EU-Lebensmittelsystems auf Umwelt und Klima zu reduzieren sowie eine gesündere, nachhaltigere Ernährung zu unterstützen. Dazu soll eine Überarbeitung der Verordnung zur Information der Verbraucher über Lebensmittel und damit ein nachhaltiges Lebensmittelkennzeichnungssystem auf den Weg gebracht werden
Die im italienischen Parma ansässige EU-Agentur für Lebensmittelsicherheit (Efsa) mit mehr als 400 Mitarbeitern soll die Entwicklung eines EU-weiten Systems zur Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln unterstützen. Sie wird bis März nächsten Jahres eine umfangreiche Studie vorlegen, um der EU-Kommission die Entscheidung für ein bestimmtes System zu erleichtern.
Die EU will mit dem neuen Labelsystem besser über Ursprung und Inhaltsstoffe von Lebensmitteln informieren und die Standards erhöhen. Mit neuen Nährwertprofilen soll dann auch die Werbung für Lebensmittel mit zu viel Zucker, Salz oder Fett eingeschränkt werden. Die Art der Kennzeichnung mit Nährwertprofilen auf der Verpackungsvorderseite ist unter Experten und in den Mitgliedsländern heftig umstritten.
In Deutschland kommt das Nutri-Score-System gut an
In Deutschland kommt das Lebensmittellogo Nutri-Score, das von Lebensmittelkonzernen wie Danone und Nestlé angewandt wird, als Entscheidungshilfe für den Kauf gesünderer Produkte gut an. Inzwischen haben sich weit über 100 Firmen aus Deutschland mit mehr als 200 Marken für die Verwendung des farbigen Nährwertkennzeichens registriert.
Der Rechtsrahmen für die freiwillige Nutzung des in Frankreich entwickelten Labels war im November in Kraft getreten. Das Logo bezieht neben Zucker, Fett und Salz auch empfehlenswerte Elemente wie Ballaststoffe, Eiweiß oder Anteile an Obst und Gemüse ein. Für die Mengen pro 100 Gramm werden jeweils Punkte vergeben. Heraus kommt ein Gesamtwert, der in einer fünfstufigen Skala abgebildet wird: von „A“ auf dunkelgrünem Feld für die günstigste Bilanz über ein gelbes „C“ bis zum roten „E“ für die ungünstigste.
Mit Blick auf eine Nutzung von Nutri-Score in Europa haben Deutschland und sechs weitere Staaten eine Grundsatzvereinbarung getroffen. Dazu gehört ein gemeinsames wissenschaftliches Gremium, das sich auch mit einer möglichen Weiterentwicklung des Nutri-Score befassen soll.
In der EU-Kommission hält sich aber die Begeisterung in Grenzen. Das Nutri-Score-System sollte laut einem Mitglied des Kabinetts von EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski nicht als Allheilmittel für Verbraucher zur Beurteilung der Gesundheit von Lebensmitteln angesehen werden.
Die Lösung des Lebensmittelsiegels kann auch dem Markt überlassen werden
Falls es zu keinem Kompromiss in der EU kommen sollte, wollen die Experten des Centrums für Europäische Politik dem Markt die endgültige Entscheidung über ein Siegel überlassen. Sie plädieren dafür, dass die EU die europäischen Verbraucher dann entscheiden lasse, welches System sie bevorzugen. Sie solle zwar die Hersteller zur Nährwertkennzeichnung auf der Vorderseite der Verpackung verpflichten, aber den Unternehmen die Wahl lassen, welches Etikett sie verwenden wollen. Die Marktlösung erfordere eine EU-weite gegenseitige Anerkennung solcher Kennzeichnungen.
Die Autoren der Studie des Centrums für Europäische Politik schlagen grundsätzlich eine bessere Information über die Bestandteile von Lebensmitteln für die Bürger durch die EU vor. „Die EU sollte eine massive Aufklärungskampagne starten, um das Verständnis für den Inhalt der europäischen Kennzeichnungen zu verbessern“, fordern die Verfasser der Studie. Ziel sei es, durch mehr Aufklärung Krankheiten wie Krebs und Diabetes sowie Herzproblemen besser vorzubeugen.
Gerade durch die Pandemie hat das Thema nochmals an Bedeutung gewonnen. Denn die Coronakrise bescherte beispielsweise Fertigprodukten, die Ernährungsexperten kritisieren, einen unerwarteten Boom.
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